Was bedeutet Incel?
Männer, die unfreiwillig im Zölibat leben
In unserer modernen Welt gibt es viele Menschen, die enthaltsam leben – und das nicht unbedingt aus religiösen Gründen und auch nicht immer freiwillig. Eine Gruppe, die des Öfteren Schlagzeilen macht, sind sogenannte „Incels“: Männer, die unfreiwillig im Zölibat leben und sich oft isoliert und missverstanden fühlen. Aber wie kommt es dazu und warum wächst bei einigen der Frust so stark an? In diesem Artikel schauen wir uns an, was hinter der Incel Szene steckt, welches Menschenbild bei Incels vorherrscht und wie man am besten mit Incels umgeht.
Wofür steht die Abkürzung Incel?
Der Begriff Incel setzt sich aus den englischen Wörtern „involuntary“ und „celibate“ zusammen und bedeutet so viel wie unfreiwillig zölibatär. Die Bezeichnung wird vor allem von heterosexuellen cis Männern verwendet, die zwar gerne Sex und eine Beziehung hätten, in der Realität allerdings kaum Kontakt zu Frauen haben. Incel ist eine Art identitätsstiftende Selbstbezeichnung.
Anders als beim religiösen Zölibat und der freiwilligen Entscheidung beim boysober Trend, entscheiden sich Incels nicht absichtlich für ihr sexloses Leben. Männer, die sich selbst als Incels beschreiben, haben oft ein geringes Selbstwertgefühl und werten ihr eigenes Aussehen ab. Sie denken oft, dass ihr „minderwertiges“ Aussehen der Grund dafür sei, wieso sie keine Partnerin haben.
Incels organisieren sich vor allem im Internet. In Incel-Foren und auf spezifischen Internetseiten tauschen sie Memes und Bilder aus. In diesen Foren bestärken sich die Incels gegenseitig in ihren Weltansichten und entwickeln sogar ein ganz eigenen Sprachjargon, um den eigenen Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Leider beschränken sich die Incel-Foren nicht nur auf Selbsthilfetipps und ein Gemeinschaftsgefühl. Vielmehr kommt es hier immer wieder auch zum Austausch von Gewaltfantasien gegen Frauen und dem Posten von sexistischen Parolen.
Was macht einen Incel aus?
Natürlich sind nicht alle Incels gleich. Es handelt sich um eine ganz bunt zusammen gemischte Gruppe, die vor allem eine Gemeinsamkeit hat: Die unfreiwillige Abstinenz von Sex. Doch im Hinblick auf Herkunft, politische Ausrichtung und auch sexuelle Orientierung lassen sich nicht alle Incels über einen Kamm scheren. Gemeinsam haben sie jedoch oft bestimmte Ansichten im Hinblick auf Dating und Partnerwahl, die wir im Folgenden für Dich zusammenfassen:
Incel Entstehung: Geschichte der Incels im Überblick
Doch woher kommen die Incels? Handelt es sich um ein neues Internetphänomen? Nicht wirklich. Denn der Ursprung der Incel Bewegung liegt bereits im Jahr 1997. Damals gründete eine kanadische Studentin ein Selbsthilfeforum für schüchterne und einsame Menschen mit dem Namen „Alana’s Involuntary Celibacy Project“. Die Abkürzung Incel war damit nicht wertend gemeint, sondern sollte nur eine Bezeichnung für eine lange übersehene Gruppe schaffen.
Die Studentin verließ das Forum im Jahr 2000 woraufhin sich der Charakter des Austausches veränderte. Statt gegenseitiger Unterstützung und Verständnis kam es vermehrt zu Hassrede. Übrig blieben vor allem heterosexuelle Männer, die Frauen die Schuld an ihrer Einsamkeit zuwiesen.
In den Fokus der Öffentlichkeit rückten die Incles vor allem, nachdem sich immer wieder Täter von Gewalttaten gegenüber Frauen zur Incel-Community bekannten. 2022 nahm sogar die Bundesregierung eine Bewertung der Incel-Szene vor. Das Ergebnis: Incels müssen aktuell nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden, da sich die Relevanz im deutschsprachigen Raum derzeit in Grenzen hält. In den USA zeigt sich ein anderes Bild: Hier kommt es immer wieder zu Gewalttaten und sogar Amokläufen, die im Namen der Incel-Überzeugungen stattfinden.
Männlichkeitsbilder der Incels: Alphas, Normalos und Verlierer
Incels haben eine eigene Logik entwickelt, um ihre unfreiwillige Abstinenz zu erklären. Ihrer Ansicht nach ist der Grund dafür weniger eine Frage des Charakters oder von Pech, sondern liegt ausschließlich im Aussehen. Sie gehen davon aus, dass bei der Partnerwahl das äußerliche Erscheinungsbild den entscheidenden Einfluss hat. Den Begriff „Lookismus“ verwenden sie, um eine angebliche Diskriminierung aufgrund von „unattraktivem“ Aussehen zu beschreiben, während andere Formen von Diskriminierung in dieser Logik oft nicht anerkannt werden.
Basierend auf äußerlicher Attraktivität teilen Incels Männer in drei Gruppen ein. Am oberen Ende der Skala stehen die besonders attraktiven Männer, die sie „Chads“ oder „Alphas“ nennen. Ihr Schönheitsnorm gerechtes Auftreten sorgt laut der Incel-Logik dafür, dass Chads bei Frauen landen und so viel Sex haben können, wie sie möchten.
Daran schließt sich die Gruppe der „normalen Männer“ an, die auch „Normies“ genannt werden. Incels gehen davon aus, dass weniger attraktive Frauen, die bei den Chads nicht landen können, für die Normies „übrigbleiben“.
Am Ende der Hierarchie sehen sich die Incels selbst. Sie bezeichnen sich als „Verlierergruppe“. In ihrer Auffassung erschwert ein vermeintlich nicht normgerechtes Aussehen den Zugang zu Partnerschaften und intimen Beziehungen. Andere Faktoren für die Partnerwahl – wie Interessen, Persönlichkeitsmerkmale oder soziale Kompetenzen – betrachten sie als weitgehend irrelevant. Stattdessen sehen sie genetische Faktoren und evolutionäre Mechanismen als die Haupttreiber für romantischen und sexuellen Erfolg.
Daraus resultiert die unter Incels viel zitierte 80/20 Regel: Angeblich bekommen 20% der attraktivsten Männer 80% der Frauen ab. Wie diese Rechnung in einer überwiegend monogamen Gesellschaft aufgehen soll, begründen die Incels nicht.
Daraus ergibt sich eine Art Hassliebe zwischen Incels und Chads. Auf der einen Seite beneiden die Männer, die unfreiwillig im Zölibat leben, die Alphamänner und wollen sein wie sie. Um ihren Idolen nachzueifern greifen sie sogar zu drastischen Maßnahmen wie plastischer Chirurgie (im Incel Jargon als „Looksmaxxing“ bezeichnet) oder trainieren exzessiv im Fitnessstudio (Gymmaxxing). Auf der andere Seite zeigt sich auch immer wieder Hass auf die Alphas, da sie den Incels die Frauen „wegnehmen“ würden.
# Schon gewusst?
Was genau laut Incels als attraktiv gilt ist sehr von stereotypen Schönheitsidealen geprägt. Überdurchschnittlich groß und muskulös sollen Männer sein, symmetrische Gesichtszüge aufweisen, ausgeprägte Wangenknochen und einen breiten Unterkiefer haben. Das wir in der Realität alle unterschiedliche Dinge als schön und ästhetisch wahrnehmen, beachten die Incels nicht.
Black Pill, Blue Pill, Red Pill: Was es mit den Pillenfarben auf sich hat
Auch der Film Matrix aus dem Jahr 1999 hat den Sprachgebrauch der Incels geprägt. Im Film muss sich der Protagonist zwischen einer blauen Pille und einer roten Pille entscheiden. Die blaue Pille führt zum verbleib in der Illusion und Sicherheit der „Matrix“ wohingegen die rote Pille zur Wahrheit führt (im Film geht es darum, die Matrix zu verlassen und die Realität zu erkennen, auch wenn diese härter und gefährlicher ist).
Was das nun mit einem Incel zu tun hat? Sogar relativ viel. Denn Incels sprechen immer wieder von der blauen, roten und auch schwarzen Pille. Alle, die nicht der Incel Ideologie anhängen, haben nach dieser Logik die blaue Pille genommen. Wer emotionale Verbundenheit und Persönlichkeitsmerkmale für die Partnerwahl als wichtig erachtet, der hat es laut Incels einfach nicht verstanden.
Denn die Incel-Erleuchtung geht mit der roten Pille einher: Wer diese (metaphorisch) nimmt, erkennt, dass letztendlich nur das Aussehen Zugang zu Sex und Beziehung sichert. Eine weitere Erkenntnis, die mit der roten Pille in Verbindung steht: Männer seien Frauen gegenüber benachteiligt und Frauen würden sich eigentlich nach traditionellen Geschlechterrollen sehnen.
Noch einen Schritt weiter geht die schwarze Pille. Sie symbolisiert den Glauben, dass die Situation aussichtslos ist, weil gesellschaftliche und genetische Umstände unveränderlich sind. Wer die schwarze Pille „geschluckt“ hat, hat demnach jeden Glauben an Verbesserungen oder Auswege verloren und sieht das eigene Leben und das Streben nach Beziehungen als sinnlos an. Die schwarze Pille markiert also eine Stufe ausgeprägter Hoffnungslosigkeit und Radikalisierung innerhalb der Incel-Logik. Das zeigt sich auch an dem extremen Ausspruch, den viele black-pill-Incels als letzten Ausweg sehen: Lay Down And Rot (LDAR) – hinlegen und verrotten.
# Gut zu wissen:
Die rote Pille – blaue Pille Analogie beanspruchen nicht nur die Incels für sich. In der sogenannten Manosphäre (verschiedene Männergruppen, die sich online für die Stärkung von Männerrechten einsetzen) ist die Matrix-Metapher sehr beliebt.
Warum gibt es Incels?
Incels – also Menschen, die unfreiwillig enthaltsam leben und darunter leiden – gibt es aus verschiedenen Gründen, die sowohl persönliche, gesellschaftliche als auch politische Einflüsse haben. Viele Incels haben in ihrem Leben oft wiederholt Misserfolge in Sachen Dating oder Beziehungen erlebt, was zu einem Gefühl der Isolation und Selbstzweifel führen kann. Oft spielen ein geringes Selbstbewusstsein, wenig soziale Erfahrung oder negative Erlebnisse mit Zurückweisungen und Mobbing eine Rolle.
Die Welt von Social Media und Dating-Apps verstärkt dieses Gefühl für manche noch, da dort häufig der Eindruck entsteht, dass alles von äußerlichem „Erfolg“ abhängt und andere Menschen ständig erfüllte Beziehungen oder aufregende Dates erleben. Dieser ständige Vergleich mit vermeintlich glücklicheren Menschen kann Frust und Resignation auslösen. In bestimmten Online-Communities der sogenannten „Manosphäre“ finden manche Incels dann Gleichgesinnte, was zwar zunächst Verständnis schafft, aber auch dazu führen kann, dass sich ihre negativen Überzeugungen verfestigen.
Ein weiterer Grund, warum es Incels gibt, liegt auch in politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die bei einigen Männern auf Ablehnung stoßen. So wird die Incel-Bewegung oft als eine Art Gegenentwurf zum Feminismus und zur Idee der selbstbestimmten weiblichen Sexualität gesehen.
Viele Incels sind der Ansicht, dass Frauen durch die Emanzipation und die Freiheit, ihre Partner selbst zu wählen, nun höhere Ansprüche an Männer stellen würden, welche die Incels nicht erfüllen können. Sie fühlen sich dadurch zurückgewiesen und ausgegrenzt. Die Vorstellung, dass Frauen zunehmend selbst entscheiden, mit wem und wann sie Beziehungen oder sexuelle Kontakte eingehen, sorgt in der Incel-Gruppe für Frustration, da sie das als einen „Verlust“ an traditionellem Einfluss sehen. In ihrer Wahrnehmung verhindert diese Entwicklung, dass Männer wie sie, die nicht den vorherrschenden Attraktivitätsidealen entsprechen, überhaupt eine Chance bekommen.
Dass es oft gar nicht am Aussehen liegt, dass immer mehr Frauen auf Männerentzug gehen, scheint den Incels dabei egal zu sein. Wer den Frauen Gehör schenkt, wird merken, dass sie sich nicht von Männern abwenden, weil sie sie optisch unattraktiv finden, sondern weil sie mit dem toxischen Männlichkeitsbild, Alphatiergehabe und emotional anstrengenden Situationships einfach nichts mehr anfangen können.
Wie mit einem Incel umgehen?
Du hast das Gefühl, dass jemand in Deinem Umfeld ein Incel sein könnte, aber weißt nicht genau, wie Du damit umgehen sollst? Dann wollen wir Dir hier ein paar Tipps für den Umgang mit einem Incel an die Hand geben:
Achte im Umgang mit Incels immer auch auf Dich selbst. Frage Dich, ob Du aktuell die mentale Kapazität und die emotionalen Ressourcen hast, um Dich mit den Incel-Ansichten auseinanderzusetzen. Manchmal reicht es auch einfach zu sagen: „Das sehe ich anders als Du, aber bitte lass uns jetzt über ein anderes Thema sprechen“, um Deinen Standpunkt klar zu machen.
Da die Incel-Einstellungen oft auch tief verwurzelt sind und mit einem sehr negativen Selbstbild einhergehen, reicht ein einzelnes Gespräch oft nicht aus, um Reflexionsprozesse in Gang zu setzen. Wenn Du das Gefühl hast, dass eine Person sehr stark in der Selbstabwertung steckt und unter der unfreiwilligen Abstinenz leidet, kannst Du vorschlagen, dass sich die Person therapeutische Hilfe sucht. Doch den Schritt in die Therapie muss jeder Mensch dann aus Eigenmotivation wagen, denn Freiwilligkeit ist eine unverzichtbare Voraussetzung für den Therapieerfolg.
Reflexionsfragen für Männer, die unfreiwillig abstinent leben
Für viele Männer kann die unfreiwillige Abstinenz eine belastende und isolierende Erfahrung sein. Wenn man sich in dieser Situation befindet, ist es leicht, in Frustration und das Gefühl des Unverstandenseins abzurutschen.
Doch gerade in solchen Momenten lohnt es sich, innezuhalten und einige ehrliche Fragen zu stellen, um herauszufinden, was wir selbst tun können, um erfüllendere Verbindungen zu anderen und zu uns selbst aufzubauen.
Die folgenden Reflexionsfragen sind dafür gedacht, neue Perspektiven zu eröffnen, ganz ohne Schuldzuweisung. Sie bieten Dir die Möglichkeit, tiefer zu verstehen, wie Dein Verhalten, Deine Ansichten und Deine Erwartungen Deinen Alltag und Dein Empfinden prägen – und wie Du vielleicht sogar einen neuen Weg für Dich entdecken kannst, der mehr Verbindung zu anderen bereithält.
Nimm Dir am besten Zettel und Stift zur Hand und beantworte die Reflexionsfragen schriftlich. Du musst natürlich nicht alle beantworten und schon gar nicht alle gleichzeitig. Spüre einfach in Dich hinein, welche Fragen am meisten in Dir auslösen – hier liegt oft Potential für persönliches Wachstum.
Fazit: Unfreiwilliges Zölibat als gesellschaftliches Problem
Unfreiwillige Enthaltsamkeit und die damit einhergehende Frustration sind nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Themen. Das Gefühl, ausgeschlossen oder zurückgewiesen zu werden, kann bei Betroffenen zu einem hohen Maß an Unzufriedenheit und sogar zu gefährlichen Gedankenspiralen führen.
Gleichzeitig verdeutlicht das Phänomen, wie wichtig es ist, über moderne Männlichkeitsbilder und die sozialen Erwartungen in der Dating-Welt nachzudenken. Die Herausforderung liegt darin, eine offene Diskussion darüber zu fördern, wie Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen gestärkt werden können – fernab von extremen Ansichten und Vorurteilen. Letztlich geht es darum, Räume zu schaffen, in denen Menschen positive Beziehungen zu sich selbst und anderen entwickeln können und sich als wertvoll und gehört fühlen.