Paraphilie – sexuelle Vorlieben abseits der Norm?
Sexuelle Vorlieben abseits der Norm fallen streng genommen unter die Diagnose Paraphilie beziehungsweise Paraphilien. Aber hier ergibt sich schon das eigentliche Problem: Wir wissen überhaupt nicht was „die Norm“ sein soll beziehungsweise welche sexuellen Vorlieben von der Mehrheit der Menschen geteilt werden.
Paraphilie – Wortherkunft und Definition
Der Begriff Paraphilie lässt sich vom Griechischen pará „abseits, neben“ und philía „Freundschaft, Liebe“ herleiten und fällt unter die Diagnosekategorie „F65 Störungen der Sexualpräferenz“. Und hier beginnen bereits die Probleme: Das Wort „Sexualpräferenz“ an sich deutet an, dass man etwas präferieren, also vorziehen, könnte. Im Bereich sexueller Neigungen ist dies aber nicht der Fall – wir haben keinerlei wissenschaftliche Hinweise dafür, dass man die sexuelle Neigung oder aber die sexuelle Orientierung eines Menschen verändern könne. Ich kann Bier Wein vorziehen, aber nicht Füße lecken gegenüber Leder tragen. Entweder ich werde durch etwas sexuell erregt oder nicht.
Das nächste Problem ist der Begriff der „Störung“. An den sexuellen Neigungen ist nichts gestört. Jedoch kann das Ausleben mancher Paraphilien illegal und moralisch unhaltbar sein. Da die Paraphilien noch in den 1980ern und 1990ern als „abseits der Norm“ und somit behandlungsbedürftig eingestuft wurden, wird klinisch aber auch wissenschaftlich mittlerweile unterschieden in „konsensuelle Paraphilien“ vs. „non-konsensuelle Paraphilien“.
Unter konsensuellen Paraphilien versteht man Paraphilien mit Einverständnis, deren Ausleben unproblematisch ist, während das Ausleben non-konsensueller Paraphilien illegal und daher problematisch wäre. In den ersten Bereich fallen Fetische, fetischistischer Transvestitismus (also dass z. B. ein Mann Frauenunterwäsche trägt und durch das Tragen dieser Unterwäsche erregt wird) und manche „Sonstige“. „Sonstige“ ist eine Kategorie für Phänomene, die zwar keine eigene Diagnose bekommen haben, aber die dennoch auftauchen. Bei Paraphilien wären das z. B. die sexuelle Erregung durch Urin (Urophilie) oder sexuelle Erregung durch Menschen mit körperlicher Behinderung (Amelotatismus).
Der zweite Bereich, die Paraphilien deren Ausleben illegal ist, umfasst die Diagnosen Exhibitionismus (das Entblößen der äußeren Genitalien im öffentlichen Raum), Voyeurismus (das Beobachten anderer Menschen in intimen Situationen), Pädophilie (sexuelle Neigung zu Kindern) sowie Sadomasochismus (Zufügen/Erleben von Schmerzen, Unterwürfigkeit/Dominanz beim Sex).
Die Zukunft der Paraphilien beginnt heute
Seit 01.01.2022 gibt es nun aber diagnostische Veränderungen. In den kommenden fünf Jahren sind die bisherigen, alten Diagnosen anwendbar, gleichzeitig aber auch die neuen. Und im neuen System hat sich so einiges getan: Der Fetisch und der fetischistische Transvestitismus sind nun keine Diagnosen mehr.
Bisher war es so, dass diese Diagnosen vergeben wurden, wenn sich jemand mit diesen Fetischen vorstellte und darunter litt, dass er:sie diese sexuellen Neigungen hatte. Es fällt aber auf, dass zumindest in unseren westlichen Ländern kaum noch Menschen eine Psychotherapie möchten, weil sie auf Füße stehen oder Lack und Leder sie erregt. Es ist zu hoffen, dass wir uns als Gesellschaft weiterentwickelt haben.
Im neuen System kann nur noch diagnostiziert werden, was beim Ausleben illegal wäre beziehungsweise anderen Menschen schaden oder ihre Grenzen überschreiten würde. Also ohne Einwilligung wäre. Deshalb bleiben als Diagnosen noch Voyeurismus, Exhibitionismus, Pädophilie und sexueller Sadismus unter Anwendung von Zwang – Masochismus fällt weg. Neu hinzu kommt der Frotteurismus, also das sich Pressen/Reiben an anderen Menschen zum Zweck der sexuellen Erregung. Denn bei all diesen Neigungen gilt: Die andere Person darf nicht wissen, dass sie beobachtet wird (Voyeurismus), gleich mit dem Genital überrascht wird (Exhibitionismus), kann gar nicht einwilligen (Pädophilie) oder darf nicht einwilligen (sexueller Sadismus unter Zwangsanwendung).
Psychotherapie der Paraphilie
Wie oben erwähnt können wir psychotherapeutisch die sexuellen Neigungen eines Menschen nicht verändern. Wer anderes behauptet oder versucht begeht einen Kunstfehler. Bei den Paraphilien wird in einer Psychotherapie erarbeitet, wie man legal leben kann. Hierfür ist es unabdingbar, eine Unterscheidung von sexuellen Fantasien (also Gedanken) und sexuellen Handlungen (also Verhalten) vorzunehmen – denn ich kann nur kontrollieren, was Teil von mir ist. Und das braucht erstmal Akzeptanz. Ich muss akzeptieren, dass ich diese oder jene Neigung habe, um sie zu kontrollieren, also sowohl für mich legal zu bleiben, aber auch um gleichzeitig kein anderes Menschenleben zu zerstören.
Oder anders: Wenn mich mein Vorgesetzter auf Arbeit nervt und ich mir vorstelle, ihm eine reinzuschlagen, dann war das eine Strategie, mit meiner Wut umzugehen. Ich habe das aber nicht in der Realität gemacht und deshalb darf mich niemand anzeigen, verurteilen oder bewerten.