Homosexuell: Darum gibt es noch viel zu tun
Die Regenbogenfahnen wehen im Wind, die heiße Sommersonne prallt auf den Asphalt und mehrere Tausend Menschen ziehen durch die Straßen Berlins. Es ist “Christopher Street Day” (CSD), bei dem queere Menschen für ihre Sichtbarkeit und Rechte demonstrieren. Ihr habt doch alles, was ihr braucht, könnte man argumentieren – wozu noch solche Demonstrationen?
Weil wir in einer heterosexuellen Gesellschaft leben, in der es sehr oft sehr schwer ist, homosexuell zu sein und in der es nicht genügend Sichtbarkeit von queeren Menschen geben kann. Das zeigt auch meine Geschichte.
Diskriminierung als homosexuelle Person
Aufgewachsen bin ich in einer Kleinstadt bei Münster. Dort war alles sehr konservativ und engstirnig. Sichtbar queere Menschen gab es nicht. Die Jungs trugen Jack-and-Jones-Hemden, Bruno-Banani-Uhren und spielten Fußball. Die Mädchen gingen in ihrer Freizeit reiten und schauten “High School Musical”. Ich hingegen färbte mir die Haare bunt, lief mit zerrissenen Hosen rum und hörte Britney Spears und Jeanette Biedermann. Irgendwie war damals schon klar, dass ich in die Dorfjugend nicht rein passte.
Das war auch den anderen Kindern und Jugendlichen klar. Deshalb gaben sie mir Spitznamen wie “Blümchen”, “Mädchen” und “Schwuli”. Später wichen diese Beleidigungen wie “Schwuchtel” und “Arschficker”. Manchmal wurde ich nach der Schule abgefangen, bedrängt und angegriffen. Der Weg ins Klassenzimmer wurde oft zum Überlebenskampf.
All das machte es schwer für mich, mich mit meiner Sexualität auseinanderzusetzen und sie zu erforschen. Dennoch schaffte ich es, mich mit 15 vor einigen Freunden und Freundinnen als homosexuell zu outen. Es störte sie nicht weiter, manche dachten es ohnehin schon. Etwa zu der Zeit ging ich auf die ersten Dates, versuchte andere Jungs kennenzulernen.
Homosexuelle Vorbilder sind wichtig
All das war aber ebenfalls sehr schwer, es fehlte immer an Rollenmodellen: Wie funktionieren homosexuelle Beziehungen? Wie läuft der Sex zwischen Männern ab? Was mag ich und was ist mir wichtig? Im Fernsehen wurden Charaktere wie Ross Anthony und Olivia Jones gezeigt. Sicher wichtige Personen, ich konnte mich aber nicht mit ihnen identifizieren. Auf der anderen Seite gab es Dating-Apps wie “PlanetRomeo” und Pornos – beide eher auf kurzweilige Befriedigung ausgelegt und für die Selbstfindung als Teenager recht ungeeignet.
Stattdessen wurde ich in meiner Kindheit ständig mit heteronormativen Bildern, Normen und Werten zugeballert. Dass es bei “Gute Zeiten, Schlechte Zeiten” eine Zeit lang sogar eine lesbische Frau gab, war damals revolutionär. Auch bei uns in der Straße lebte ein lesbisches Paar. Bei ihnen war ich als Kind immer gern zu Besuch – es wurde aber nie darüber geredet, dass sie lesbisch sind. Es wurde mir nicht erklärt, dass es normal ist, dass gleichgeschlechtliche Paare sich lieben. Diese Erkenntnis kam erst Jahre später als Jugendlicher beziehungsweise Erwachsener.
Homosexuell leben in der heutigen Zeit
Ich lebe mittlerweile in Berlin und habe mir Räume und Personen gesucht, mit denen ich mich identifizieren kann und die es mir leichter machen, als homosexuelle Person zufrieden zu sein. Da sind zum Beispiel Autor:innen wie Edouard Louis und Glennon Doyle, die über ihre Selbstfindung schreiben. In der Musik gibt es Künstler:innen wie Kim Petras und Troye Sivan, die offen queer sind. In Serien und Filmen gehört es heute zum guten Ton, immer mindestens einen queeren Charakter mit einzubeziehen. Außerdem gibt es in großen Städten queere Zentren, Sportvereine und Clubs. In meiner Kindheit hat es das nicht gegeben. Umso mehr freue ich mich, dass die jüngere Generation nun diese Vorbilder und Möglichkeiten hat, um nicht so viele Umwege auf dem Weg der Selbstfindung gehen zu müssen.
Gesellschaftlich und politisch gibt es trotz dieser Fortschritte dennoch einige Baustellen: Männer, die mit Männern schlafen, wurden bis vor Kurzem bei der Blutspende diskriminiert. Das Infektionsrisiko mit Geschlechtskrankheiten sei zu hoch. Deshalb durften queere Männer ein Jahr keinen Sex haben, wenn sie Blut spenden wollten. Dabei resultierte das Transfusionsgesetz aus der Aids-Krise in den 80er-Jahren.
Auch in punkto Adoption werden homosexuelle Paare benachteiligt. Lesbische Frauen müssen den Weg über die Stiefkindadoption gehen, der langwierig, teuer und oft als diskriminierend wahrgenommen wird. Und dann ist da noch das Transsexuellengesetz, das trans Menschen als krank darstellt. Auch hier müssen etliche Hürden genommen werden, die stigmatisierend und ermüdend sind. Hinzu kommt, dass die Zahl der gemeldeten queerfeindlichen Angriffe jedes Jahr steigt.
Es gibt noch einiges zu tun, bis queere Menschen frei und sicher in Deutschland leben können und homosexuell zu sein nicht mehr als anders, sondern als normal gilt. Letzten Endes möchten homosexuelle Menschen genau das, was heterosexuellen Menschen so selbstverständlich gegeben wird: frei zu lieben.
# Info
Sebastian Goddemeier arbeitet als Autor für Medien wie VICE, Spiegel und den Tagesspiegel. Sein Buch “Coming-out” ist im Februar 2021 erschienen.
# Über den Autor
Sebastian Goddemeier ist Autor, Journalist und Sprecher und EIS-Experte für queere Themen. Zum Autorenprofil.
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