Desorganisierter Bindungsstil in Beziehungen
Wie datet man mit desorganisierter Bindung?
Kennst Du das, wenn Nähe Angst macht, Distanz aber gleichzeitig auch schmerzt? Diese widersprüchlichen Gefühle können ein Anzeichen für einen desorganisierten Bindungsstil sein. Dieser Bindungstyp kann zu widerstreitenden Empfindungen fühlen, die Herausforderungen für Liebe und Sexualität mit sich bringen. Ließ hier, wie sich der desorganisierte Bindungsstil in Beziehungen zeigt und wie es möglich ist, eine desorganisierte Bindung zu heilen.
Was ist der desorganisierte Bindungsstil?
Der desorganisierte Bindungsstil ist einer der vier Bindungstyp der Bindungstheorie, die von Bowbly und Ainsworth entwickelt wurde. Neben der desorganisierten Bindung gibt es auch den sicheren Bindungstyp, den vermeidenden Bindungsstil sowie den ängstlichen Bindungstyp. Während sicher gebundene Menschen Vertrauen und Nähe als stabilisierende Kräfte empfinden, sind unsicher gebundene Menschen – ob ängstlich oder vermeidend – oft durch ein Ungleichgewicht in ihrem Umgang mit Nähe und Autonomie geprägt.
Der desorganisierte Bindungsstil kombiniert dabei Aspekte des ängstlichen und vermeidenden Stils und wird deshalb auch als ängstlich-vermeidender Bindungsstil bezeichnet. Oft ist es schwer vorherzusagen, ob Angst oder Vermeidung die Oberhand gewinnt, was Beziehungen mit diesem Bindungsstil besonders kompliziert machen kann. In der Tat heißt es auch genau deshalb “desorganisierte Bindung”, weil ein eindeutiges Muster für die Gefühlsreaktionen nicht vorhersehbar ist, weder nach außen noch nach innen.
Die Entstehung des desorganisierten Bindungsstils ist häufig eine Folge von belastenden Kindheitserfahrungen, wie Vernachlässigung, Missbrauch (verbal, körperlich oder sexuell) oder traumatischen Erlebnissen. Wenn die Bezugsperson, die eigentlich Sicherheit und Schutz bieten sollte, gleichzeitig Angst auslöst oder unberechenbar ist, wird das kindliche Bindungssystem überfordert. Das Kind weiß nicht, ob es Nähe suchen oder vermeiden soll – und entwickelt so ein tiefes inneres Dilemma.
Doch nicht nur extreme Traumata können zu einem desorganisierten Bindungsstil führen. Auch inkonsistentes Verhalten der Eltern, wie wechselhafte Fürsorge oder unerwartete emotionale Ausbrüche, können dazu beitragen. Dazu kann es beispielsweise komme, wenn die Eltern selbst unaufgearbeitete Traumata haben. Wenn ein Kind immer wieder erfahren muss, dass seine Bedürfnisse nicht vorhersehbar erfüllt werden, entsteht eine tiefe Unsicherheit, die oft in Glaubenssätzen wie „Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden“ oder „Nähe bedeutet Gefahr“ mündet.
Diese frühkindlichen Prägungen setzen sich oft im Erwachsenenalter fort. Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil sehnen sich nach Liebe und Nähe, empfinden diese aber gleichzeitig als bedrohlich. Beziehungen werden so von widersprüchlichem Verhalten geprägt: Mal klammernd, mal distanziert, mal liebevoll, mal abweisend. Das kann nicht nur für die Person mit desorganisierten Bindungsstil belastend sein, sondern auch für deren Partner:innen. Der Schlüssel liegt darin, diese Muster zu erkennen und daran zu arbeiten, sicherere Bindungen zu entwickeln.
Woran erkennt man einen desorganisierten Bindungsstil?
Die Anzeichen für einen desorganisierten Bindungsstil sind oft gar nicht so leicht zu erkennen. Selbst die Forscherin Mary Ainsworth übersah diesen Bindungstyp anfangs, da das Verhalten der betroffenen Kinder so schwer zu kategorisieren war.
Da es sich um eine ängstlich-vermeidende Mischform handelt, werden Menschen mit desorganisierter Bindung auch oft versehentlich dem ängstlichem oder den vermeidenden Bindungsstil zugeordnet. Allerdings ist das Erkennen des desorganisierten Bindungsstils durchaus möglich. Folgende Anzeichen sprechen für eine desorganisierte Bindung:
Diese desorganisierte Bindung Anzeichen machen deutlich, wie belastend dieser Bindungsstil sein kann – für die Betroffenen selbst und für ihre sozialen Beziehungen. Die gute Nachricht: Mit der richtigen Unterstützung können auch Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil lernen, sicherere Bindungsmuster zu entwickeln.
Desorganisierter Bindungsstil: Sexualität beleuchtet
Für Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil kann Sex eine widersprüchliche und verwirrende Erfahrung sein. Oft suchen sie in sexuellen Beziehungen nach Nähe, Bestätigung und einem Gefühl von Sicherheit, erleben diese jedoch gleichzeitig als bedrohlich oder überfordernd. Sexualität wird mitunter genutzt, um emotionale Leere zu füllen oder das eigene Selbstwertgefühl zu stärken, was jedoch nicht nachhaltig gelingt.
Menschen mit diesem Bindungsstil können Schwierigkeiten haben, klare Grenzen zu setzen oder ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren. Das führt dazu, dass sie sich möglicherweise in sexuelle Situationen begeben, die nicht ihren tatsächlichen Wünschen entsprechen. Auf der anderen Seite kann es auch vorkommen, dass sie sexuelle Nähe vollständig vermeiden, da diese für sie mit Unsicherheiten oder sogar Ängsten verbunden ist. Anders als bei asexuellen Menschen ist in diesen Fällen durchaus sexuelles Begehren da, aus Angst vor Zurückweisung wird dem aber nicht nachgegangen.
Auch bei sexuellen Situationen können sich ähnliche Muster wie in ihrem allgemeinen Bindungsverhalten zeigen: Es kann zu intensiver Leidenschaft und Nähe kommen, gefolgt von plötzlichem Rückzug oder Konflikten. Gespräche über Konsens und Bedürfnisse fallen oft schwer, was Missverständnisse und Frustration in sexuellen Begegnungen begünstigen kann. Dennoch ist es auch hier möglich, durch Reflexion und Unterstützung einen gesunden und erfüllenden Umgang mit Sexualität zu entwickeln.
Desorganisierte Bindung in Beziehungen: Geht das?
Eine Beziehung mit einem desorganisierten Bindungsstil kann turbulent und herausfordernd sein – sowohl für die betroffene Person selbst als auch für ihre Partner:innen. Menschen mit diesem Bindungsstil sehnen sich nach Nähe und Sicherheit, empfinden diese jedoch gleichzeitig als bedrohlich. Das führt häufig zu widersprüchlichen und verwirrenden Verhaltensweisen. Der plötzliche Wechsel zwischen intensiver Nähe und unvermittelnden Rückzug ist keine Seltenheit. Dieses Wechselspiel ist emotional belastend und kann zu einem Gefühl von Unsicherheit und Instabilität bei allen Beteiligten führen.
Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Kommunikation. Menschen mit einer desorganisierten Bindung haben oft keinen klaren Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, was es ihnen schwer macht, diese auszudrücken. Dies kann zu Missverständnissen, unausgesprochenen Konflikten und einem Gefühl der Distanz in der Beziehung führen. Hinzu kommt, dass sie aufgrund von Stimmungsschwankungen und inneren Konflikten häufig Push- und Pull-Dynamiken zeigen. Dieses Verhalten, das wie ein „Ich mag Dich nicht – aber verlass mich bloß nicht“-Muster wirken kann, ist für Partner:innen äußerst verwirrend und belastend.
Beziehungen von desorganisierten Menschen neigen zudem zu selbst erfüllenden Prophezeiungen. Da sie sich selbst oft nicht für liebenswert halten und eine große Angst vor Verlassenwerden haben, verhalten sie sich ihrer Partnerperson gegenüber abweisend oder herausfordernd. Dieses Verhalten kann die Partner:innen emotional auf Distanz bringen oder sie sogar dazu veranlassen, die Beziehung zu beenden – was den Glauben der betroffenen Person bestätigt, dass andere Menschen sie ablehnen.
Für Partner:innen kann es besonders schwierig sein, mit den unvorhersehbaren Dynamiken umzugehen. On-Off-Beziehungen sind dabei keine Seltenheit, ebenso wie toxische Beziehungen, die von Misstrauen, Eifersucht und intensiven Konflikten geprägt sind. Die ständigen Wechsel zwischen intensiver Bindung und Abgrenzung fordern Geduld und emotionale Stärke, kann die Beziehung jedoch langfristig belasten.
Trotz dieser Herausforderungen ist eine stabile und erfüllende Beziehung mit desorganisierter Bindung möglich. Voraussetzung ist, dass die betroffene Person ihre Verhaltensmuster erkennt und daran arbeitet, diese zu verändern – am besten mithilfe professioneller Unterstützung bei einer Therapie. Auch die Partner:innen profitieren davon, sich bewusst mit den Dynamiken auseinanderzusetzen, um die Beziehung besser zu verstehen und konstruktiv zu gestalten.
Wie mit desorganisiertem Bindungsstil in Beziehung umgehen?
Eine Beziehung mit einer Person, die einen desorganisierten Bindungsstil hat, kann durchaus erfüllend sein. Gerade wenn der Bindungstyp jedoch auf unaufgearbeitete Traumata zurückgeht, erfordert die Partnerschaft meist besondere Aufmerksamkeit, Geduld und klare Strategien. Hier sind einige Tipps, wie man mit einem desorganisierten Bindungstyp in der Beziehung umgehen kann:
An der Kommunikation arbeiten
Offene und ehrliche Gespräche sind der Schlüssel zu erfüllenden Beziehungen. Es ist wichtig, dass beide Partner:innen lernen, ihre Gefühle und Bedürfnisse klar auszudrücken. Selbst wenn der Zugang zu den eigenen Emotionen schwierig erscheint, lohnt es sich, in die eigene Gefühlswelt einzutauchen.
Konsequenz und Beständigkeit
Eine verlässliche und stabile Partnerperson kann helfen, das Sicherheitsgefühl in der Beziehung zu stärken. Klare Strukturen und vorhersehbare Verhaltensweisen schaffen Vertrauen und geben Halt.
Geduld und Empathie
Es braucht Zeit, um alte Muster zu durchbrechen. Ein geduldiges und einfühlsames Miteinander kann dazu beitragen, Konflikte zu entschärfen und die Beziehung auf eine solidere Basis zu stellen.
Klare Grenzen setzen
Trotz aller Empathie ist es wichtig, eigene Grenzen zu erkennen und zu wahren. Wenn kein Veränderungswille erkennbar ist und das destruktive Verhalten die Beziehung dauerhaft belastet, sollte man sich überlegen, wie viel man selbst tragen kann und will.
Professionelle Unterstützung
Der Weg zu einer sichereren Bindung ist oft mit professioneller Hilfe einfacher zu bewältigen. Sexualtherapie oder Paarberatung können wertvolle Werkzeuge und Perspektiven bieten, um die Beziehung und die individuellen Bindungsmuster besser zu verstehen und Verhalten zu ändern.
Desorganisierter Bindungsstil: Trennung schwierig
Für Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil ist das Ende einer Beziehung oft besonders herausfordernd. Sie sabotieren ihre Beziehungen häufig durch wechselhaftes Verhalten, Seitensprünge oder eine widersprüchliche Mischung aus Nähe und Distanz. Trotz dieses destruktiven Verhaltens sprechen sie selbst selten eine Trennung aus. Wenn es dennoch zum Beziehungsende kommt, erleben sie diese als extrem schmerzhaft – fast so, als würde ihre Welt zusammenbrechen.
Trennungen verlaufen bei ihnen oft wie eine emotionale Achterbahnfahrt. Um den intensiven Schmerz zu vermeiden, greifen manche zu kurzfristigen Bewältigungsstrategien wie Alkohol, Drogen oder Ablenkung durch andere Beziehungen oder One Night Stands. Doch diese negativen Gefühle lassen sich nicht dauerhaft verdrängen und holen die betroffene Person schließlich ein, was das ohnehin fragile Selbstwertgefühl weiter anknacksen kann.
Häufig flüchten sie entweder in die alte Beziehung zurück oder stürzen sich unmittelbar in eine neue. Auch Affären können als Mittel dienen, um den Schmerz zu betäuben. Dieser Kreislauf erschwert es, die Trennung wirklich zu verarbeiten und verstärkt die emotionalen Herausforderungen, die mit einem desorganisierten Bindungsstil ohnehin einhergehen.
Desorganisierten Bindungsstil heilen ist möglich!
Auch wenn ein desorganisierter Bindungsstil tief in traumatischen Erfahrungen und frühkindlichen Prägungen verwurzelt ist, bedeutet das nicht, dass man für immer in diesem Muster gefangen bleiben muss. Es ist möglich, eine „erlernte“ sichere Bindung zu erreichen – und damit erfüllendere Beziehungen zu führen.
Ein entscheidender Schritt ist, Verantwortung für die eigene Heilung zu übernehmen. Besonders bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen spielt Psychotherapie eine zentrale Rolle. Einfühlsame Unterstützung durch eine:n Therapeut:in kann helfen, die Wurzeln der eigenen Bindungsmuster zu erkennen, Emotionen zu regulieren und neue, gesündere Verhaltensweisen zu entwickeln.
Wichtig: Es ist nicht die Aufgabe der Partnerperson, den Menschen mit desorganisierter Bindung zu „retten“. Zwar können Beständigkeit, Geduld und Empathie in einer Beziehung unterstützend wirken, aber die Verantwortung für persönliche Entwicklung liegt immer bei einem selbst. Beziehungen können ein sicherer Raum für Wachstum sein – aber keine:r kann für die Heilung eines anderen Menschen sorgen.
Mit der richtigen Unterstützung, Geduld und dem Willen, sich mit den eigenen Prägungen auseinanderzusetzen, ist es möglich, die Muster des desorganisierten Bindungsstils zu durchbrechen und eine sichere Bindung aufzubauen. Das erfordert Mut, ist aber eine Investition in die eigene emotionale Gesundheit und die Fähigkeit, stabile, liebevolle Beziehungen zu führen.
Fazit zum desorganisierten Bindungstyp
Der desorganisierte Bindungsstil ist oft das Ergebnis von traumatischen Erfahrungen und äußert sich in chaotischen, unvorhersehbaren Beziehungsmustern. Diese Menschen neigen dazu, zwischen Nähe und Distanz zu schwanken, was zu ungesunden Dynamiken führen kann. Doch es ist möglich, diese Muster zu überwinden. Mit der richtigen Unterstützung, wie etwa durch Psychotherapie, können Menschen lernen, sichere Bindungen aufzubauen und gesunde, stabile Beziehungen zu führen. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass die Verantwortung für Heilung bei jedem selbst liegt.